Hanoi.
Die Entdeckung des Wartens.

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Hanoi. Weiterreise. An der Ecke, die schmale Kneipe, in der ich heute vom Vergnügen des Wartens koste. Ich weiß, Warten ist nicht so gefragt. Kommt uns vor, wie ein grauer alter Herr, der eine endlose Straße Richtung Westen hinunter schleicht. Wie ein blutender Verlust. Hässlich, karg und ohne Lohn. Und so saß ich Stunden in der Bar, als ich endlich den wärmenden Blitzstrahl bemerkte, mit dem es mich umnietete.

Mit meinem gesamten Vermögen – dem Zehn-Kilo Rucksack plus einem Glas Bier – hockte ich in der kleinen Pinte von Son, dem fröhlichen Besitzer. Bei Son kostet das Bier aus dem Fass nur zehn Cent. Für das Glück, von hier aus das Treiben der gesamten Straße zu überblicken und in Ruhe warten zu können, zahlt man nicht.

Ich will noch am Abend mit dem Zug los. Raus aus der drückenden Stadt, hoch in das weite, grüne Yunnan-Hochland, das einen sogleich mit einem kühlenden Wohlgefühl versöhnt. Die schrecklichen Mittagsstunden hatten uns bereits überfallen. Dann drückt die glühende Sonne in Hanoi, nichts wirft mehr einen Schatten und man meint, man höre alsbald auf zu existieren.

Über einem Zehn-Cent Bier kann man prächtig warten und nachdenken. Der Kopf will platzen, so voll ist der. Will mal für einen Augenblick abgestützt werden. Weil man verloren ist oder nur mal vergessen hat, in den vielen Monaten unterwegs. Dann will man Inventur machen und nachsehen, ob es noch so ist, wie es einmal war.

Das englische Wort für Reisen, travel, und das französische Wort für Arbeit, travail, haben identische Wurzeln. Reisen ist Arbeit. Reisen ist die Mühsal, die etwas bewegt. Reisen ist Bewegung.

Ist Warten dann Stillstand? Weil es dem Reisen den Rhythmus nimmt? Die Melodie des Moments zerstört? Die natürliche Bewegung raubt? Oder ist Warten auch Bewegung? Weil es der Übergang von einem Zustand zum nächsten ist?

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Heute Nacht würde ich vierhundert Kilometer machen. Vierhundert Kilometer, für die sich der schaukelnde Zug sechzehn Stunden schindet, um in das vietnamesische Hochland hineinzukriechen.

Eine Brutalität, weil die Askese erzwungen ist. Der Raum krallt sich seine Zeit zurück. Gerade so, dass sich das Warten mechanisch seinen Weg bahnt und einem neue Grenzen wachsen. Die Widerstände. Die reizen beim Reisen. Und deren Früchte flehen um Fasson, wollen reif und süß werden – genau dann, wenn der müde Reisende wartet. Das Warten: Träumen mit wachen Augen.

Reisende brauchen das Warten, wie die Taucher den Sauerstoff. Die Atempause, wenn sich alles bewegt, man im Bann des eigenen Rhythmus ist. Warten verlangsamt das Reisen, weil alles zur Ruhe kommt, alles intensiver wird. Schon Versickertes wieder aufsteigt, als sei es eine Packung rostiger Edelsteine, weil es doch wichtig ist und bleiben und ein nostalgisches Schmunzeln sein will. Es gibt dem Reisen den richtigen Rhythmus, den Sinn. Warten ist Reisen. Und wer es aufmerksam anstellt, wer hinschauen, wer staunen kann, den nietet das pure Glück um, wie ein kräftiger Atemzug, der deinen gesamten Körper mit Leben überschwemmt.

Noch einmal schinden, damit sich diese prachtvolle Welt vor mir ausbreiten kann. Damit ich fiebrig bin und wach bleibe. Noch einmal vom Warten kosten.

21. Februar 2014

4 responses to Hanoi.
Die Entdeckung des Wartens.

  1. Ria said:

    Ungewöhnlich! Tief! Schön!

    • Markus said:

      danke, ria. freue mich ueber deine worte. spannende reise, die ihr da gemacht habt.

  2. Fini said:

    bin grad das erste mal auf deinen blog gestoßen. schöner text, passt grad zu meiner situation…im hohen Norden Indiens ist warten alltäglich und musste erstmal gelernt und geschätzt werden von mir 😀

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