Maputo.
Zeitlos.
Eine Woche oder so geht das nun, und ich belauere Maputo weiter. Genauer kann ich es nicht sagen, weil irgendwo im Strudel des afrikanischen Lebens die Zeit sich ausgewaschen hat. Der Schriftsteller Nicolas Bouvier schreibt: „Man glaubt, dass man eine Reise machen wird, doch bald stellt sich heraus, dass die Reise einen macht.“ Die meisten rastlosen Fragen nach dem Wann und Wo bleiben unbeantwortet. Raum wächst, für Wichtiges.
Jeden Morgen also – und erst wieder, wenn es dämmert – gehe ich durch die Straßen und frage mich, wie sie das machen, wie alles sein kann. Will verstehen, will aufschreiben: wie sie leben, wie sie leiden, wie sie überleben. Wie ein Herz Maputo aushalten kann. Natürlich versinke ich.
Zwischen Avenida Karl Marx, Avenida Ho Chi Min und Avenida Guerra Popular fließen die Farben. Vollgestopft mit Leben, mit brennender Phantasie und reichen Ideen. Mit Träumen und Gaben. „Bei uns ist der Stoff des Lebens Dank Gewohnheit so zugeschnitten, dass der Erfindungsgeist sich auf dekorative Funktionen beschränkt“, schreibt Bouvier in seiner L’usage du monde.
Das erste große Glück für jeden Maputo-Reisenden sind die Gehwege: Gehwegplatten türmen sich auf wie das Kilimandscharo-Massiv. Schlaglöcher – so groß wie der Indische Ozean tief. Und wie so oft in der Welt: Maputos Poesie kristallisiert sich aus dem Mangel: Durch das langsame Gehen reift Zeit, um die Tiefenschärfe zu erhöhen. Um zu begreifen, wie schön irrsinnig und irrsinnig schön alles ist. Wer in Maputo leben, ja überleben, wer die Schönheit erfahren will, der muß virtuoser Erfinder im Fach Leben sein.
Die Monbé, die Araber, kommen als Erste, verbergen schlampig ihr Interesse an den Goldfeldern. Den Mangel bringen die Maguerre, die Portugiesen. Alles beginnt mit der hübschen Ilha. Als Art Tank & Rast, als letzte Ausfahrt Indien für Vasco da Gama. Vierhundert Jahre und eine Millionen verschiffter Sklaven später, stürzt Salazar in Portugal und die Maguerre müssen gehen. Mosambik erbt eine weiche Sprache, Betonbauten und sozialistische Ruinen – ohne Hoffnung auf Auferstehung. Wenn im Kapitalismus der Exzess die Norm ist, dann ist Maputo der Exzess der sozialistischen Normalität.
1975 übernimmt Frelimo und findet Gefallen am Mangel fürs Volk. Die Partei flirtet mit den Sowjets und Honecker und vergisst die schon zersetzten Identitäten der Makua, Makonde und Sena. Der Bürgerkrieg nistet sich ein. Alle warten auf den Einen, der eint.
Die Madgermanes warten bis heute. Sie warten auf ihren Lohn. Jeden Tag im Jardim 28 de Maio, unter einer DDR-Fahne. Die Madgermanes sind 15.000 mosambikanischen Gastarbeiter, die in der DDR lebten und arbeiteten. Bis 1994. Dann Rückkehr aus dem Arbeiterstaat in einen Staat ohne Arbeit. Ihr Geld kam nie an. Man kann nur staunen: Mosambiks Erdgasvorrat könnte die gesamte Welt für zwei Jahre versorgen.
An diesem Morgen wird in Maputo zum vierten Mal ein Frelimo-Präsident vereidigt: Filipe Jacinto Nyusi. Junge Männer und Frauen sind zum Praça da Independência gekommen. Sie jubeln. Fünf Geburten pro Frau, fünfzig ihre Lebenserwartung. Kanonenschläge zünden. Der Präsident ist neu, die Probleme bleiben alt. Wahlen, aber keine Wahl. Die Opposition hat gekämpft. Bis die obersten Richter entscheiden: Präsident ist Nyusi.
Gegenüber, im Mercado do Povo, sitzen sie im Schatten. Aus Holzverschlägen heraus geht lauwarmes Bier in Dosen über den Tresen. In den dunklen, verräucherten Gassen treiben sich Gammler rum, Väter, junge Burschen. Wie verbündet, wie lässig, wie warm es zugeht. Das prächtige Lachen. Der schmutzige Boden. Der Geruch von gebratenem Fleisch. Die Kohle glüht in einer aufgeschnittenen rostigen Erdöltonne. Auf dem Grill: brutzelt eines von Millionen Frangos im Land. Im TV: marschieren Militärtruppen.
Kontinuität sei nun wichtig, sagt einer, der das rote Partei-Hemd trägt. Nach vierzig Jahren Frelimo. Nyusi spricht. Das erste Mal als Präsident. Und erfindet: Märchen von Frieden, Gleichheit und Wirtschaftsboom für alle. Im Mercado nicken sie. Vielleicht bestellen sie auch nur eine weitere Runde lauwarmes Black Label.
Einen Häuserblock weiter verändert sich alles, wird die betonierte sozialistische Ordnung ranzig. Vielleicht beginnt die Veränderung südlich der Avenida Maotse Tung. Vielfalt und Chaos lassen sich nicht länger durch Worte verheimlichen. Auf der Fahrbahn: SUVs, Defender, Chapas, Holzkarren, mit Kokosnüssen beladen. Tuks Tuks und Fahrstil sind „Made in India“. Jeder fährt wie er will. Niemanden stört es.
Wer von einem der Grenzübergänge im Süden Mosambiks nach Maputo kommt, wird von einem der Chapas, den Minibussen, in die Stadt gespült, die einen genau dort ausspucken, wo die Straßen mit Scharen von Menschen bevölkert sind und man sich gleich schwindlig fühlt: in der Baixa. Frauen laufen barfuß in Capulana gehüllt und balancieren Litchis, Ananas oder Mangos auf ihrem Kopf. Fein, natürlich und gelassen ziehen sie durch das strömende Durcheinander. Jeder bekommt ein Wort.
„Hey Boss, Manga!“, ruft eine der Frauen aus den blauen Wellblechboxen heraus. 50 Meticais für eine. Der Preis ist viel zu hoch. Bei den balancierenden Frauen gibt es sie für 15 Mets. Eine Erklärung fordernd, feuert sie ihre Antwort: „Wir haben kein Geld, Frelimo hat alles.“ Eine Art Frelimo-Steuer also.
Die Frauen versuchen Fliegen vom Betriebskapital zu vertreiben. Erfolglos. Hand- und Taschentücher machen Jagd auf den rinnenden Schweiß. Jeder wischt sich über Gesicht und Hinterkopf. Jeder müht sich im Schatten die Strasse entlang. Auch die jungen Frauen in Militäruniform. Männer sitzen auf Stühlen und Hockern und spielen Karten oder Brettspiele mit Pepsi-Kronkorken. Kinder starren mich an und lachen.
Die Kinder. In den Chapas werden sie verladen wie Amazon-Pakete. Kinder erhalten keinen eigenen Sitzplatz. Die Eltern heben ihre Kinder in den Bus. Dann reißt auch der Blickkontakt ab. Ständig wird rangiert. First-Out, Last-In-Prinzip. Die Erwachsenen haben nun andere Dinge zu tun: Essen, Handy, Kosmetisches, Warten. Die Kinder sitzen hinten, ruhig und mit ewiger Geduld in den schützenden Armen eines Fremden. Dieses Vertrauen, ihre Unbefangenheit rührt mich.
In der riesigen fanzösischen Bäckerei liegen ein paar einsame, dampfende Baguettes zum Verkauf aus. Der Rest der Regale ist leer. Auf der anderen Straßenseite hängen Moskitonetze in den Bäumen. Wie überdimensionierte chinesische Vogelkäfige, die im weichen Wind wehen, der von der Maputo-Bucht herübersaust, und der Staub und Hitze des Tages abwischt.
Wie an jeder Straßenecke in der Baixa teilen sich die Schuhverkäufer, die Blumenhändler und die Handymänner die Kreuzung. Die Schuhverkäufer parken ihre Schuhe in langen schwarzen Reihen auf dem Gehsteig, als wollten sie eine Partie Domino spielen. Die Gemüsehändler haben sich für das Stapeln ihrer Ware entschieden: Überall sind Pyramiden aus Karotten, Kartoffeln und Tomaten zu sehen. Limetten gibt es immer nur eine Handvoll.
Auf dem Weg zum Hafen der Hindutempel. Ein Inder schiebt Wache, bietet einen sagenhaften privaten Rundgang an. Wieviel ich zahle bliebe mir überlassen. Der Methodisten-Chor probt für den Sonntagsgottesdienst. Und unten am Hafen singen sie Suren in der Jumma Masjid-Moschee. „Handy ist Haram“ steht auf einem Schild. Word-Art illustriert die drohende Abtrünnigkeit. In der Pastelaria hocken später alle zusammen und spielen Sueca.
Gleich um die Ecke. An eine Hauswand ist von Hand „Hotel“ geschrieben und darunter ein Pfeil und jeder weiß, dass die Zimmer in der Rua do Bagamayo stundenweise die Besitzer wechseln. Im Hotel Carlton stehen zwei üppige Mädchen hinter dem Tresen, schauen in ihren Schminkspiegel und lachen. Durch den schummrigen Flur hindurch kann ich ihre weißen Zähne sehen. Den Lippenstift bemerke ich erst später.
Auf dem Bordstein der Avenida Samora Machel, die vom Hafen hoch zum Praça da Independência führt, sitzt ein nackter Mann. Der Mann wäscht sich. Mit einem oben abgeschnittenen blauen Wasserkanister schaufelt er nach und nach Wasser aus der überlaufenden Kanalisation über seinen Kopf und im Sonnenlicht perlt das silberne Wasser an ihm hinab. Kinder laufen vorbei und kichern. Große Frauen in kurzen Kleidern wechseln die Straßenseite. Der Mann singt.
Alt ist der Song. 1975. Und verrückt, weil einer dieser irren Widersprüche, in die uns das Leben einwickeln will. Bob Dylan schreibt Mozambique im Unabhängigkeitsjahr. An einem der grenzenlosen Strände, die irgendwo nördlich von Maputo beginnen sich verschwenderisch auszustrecken. Den Song pressen sie später auf das Album Desire. Das Verrückte: Mozambique ist zeitlos. Die Sehnsucht, die Lust, das Verlangen danach. Jede Zeile davon in Maputo zu fühlen. Maputo ist, wie ich mir Havanna vorstelle. Die Zeit. Sie hat den Leuten nicht alles geraubt.
Und ich bin überrascht, wie gut sich das anfühlt. Sonderbar, weil ich es nicht begreifen kann, weil ich nur fühle, was es mit mir macht, wenn ich in Maputo versinke, wenn ich mich umdrehe, wenn wieder einer lacht, mich wieder einer von ihnen tief in eine neue Sackgasse hinunterzieht.
„The sunny sky is aqua blue
And everybody likes to stop and speak
Or maybe say hello with just a glance
You turn around to take a final peek
And you see why it’s so unique to be
Among the lovely people living free“
(- Bob Dylan, Mozambique)
19. Januar 2015